Mein anarchistisches Album

Mein anarchistisches Album. Von Eva Demski, Berlin: Insel Verlag, 2022, Harcdover, 220 Seiten, 978-3-458-17843-9, 24,00 €

Liebeserklärung an Anarchistinnen und Anarchisten

Als ich 1971 meine ersten drei Bücher über Anarchismus las, war für mich nicht interessant, wer sie ins Deutsche übersetzt hat: Daniel Guérin, Anarchismus; Bertrand Russel, Wege zur Freiheit und James Joll, Die Anarchisten.

Jetzt weiß ich, dass Guérin von Eva Demski übersetzt wurde und Russel von ihrem Mann Reiner Demski, der schon 1974 unter nie ganz geklärten Umständen ums Leben kam.

Im Oktober 2022 ist von Eva Demski, die in Frankfurt lebt und seit den späten 1970er Jahren zahlreiche Bücher geschrieben hat, ihr neustes Buch mit dem Titel Mein anarchistisches Album erschienen. Kurz vor dem offiziellen Erscheinen und der Buchmesse in Frankfurt gab es eine Lesung von Demski in meinem Nachbarort Oberursel. Es war eine interessante Veranstaltung und ich hatte Gelegenheit mit Demski zu sprechen.

Auf meine Frage, wie es zu der Übersetzung von Guérin kam, sagte sie, das sei Zufall gewesen, denn sie war mit ihren 26 Jahren keine professionelle Übersetzerin. Als aber der Suhrkamp Verlag auf sie zukam mit der Anfrage, ob sie das Buch übersetzen wolle, fühlte sie sich geehrt und sagte zu. In dem Buch steht zwar noch ein zweiter Name, aber Demski sagte mir, der hätte eine frühere Auflage übersetzt, die Ausgabe von 1971 hätte sie allein übersetzt. Eine Widmung von ihr mit einem A im Kreis habe ich jetzt auch in dem Buch von Guérin, das ich extra mitgenommen hatte.

Ich habe das etwas ausführlicher beschrieben, da Demski sich seit dieser Zeit dem Anarchismus emotional verbunden fühlt, auch wenn sie selbst bis zu ihrem aktuellen Buch keines über das Thema Anarchismus geschrieben hat. Sie sprach in der Lesung über Anarchistinnen und Anarchisten immer wieder auch in der Wir-Form.

Der erste Satz in dem Buch verweist darauf, dass sie fünfzig Jahre nach der Übersetzung von Guérins Buch nachschauen wollte, was von den vielfältigen anarchistischen Lebensweisen und Ideen übriggeblieben ist und welche dazugekommen sind. Insgesamt ist dabei eine Liebeserklärung an Anarchistinnen und Anarchisten herausgekommen, weniger an den Anarchismus als solchen. Ihr geht es wohl eher um das Denken und Handeln für mehr Freiheit und Unabhängigkeit, gegen die Macht und Mächtigen und gegen den Staat. Sie grenzt dieses „scheue und empfindliche libertäre Pflänzchen“, wie sie schreibt, gegen die banale und dämliche Ratgeberliteratur der Orthodoxie des Marxismus ab, vor allem als in den 1970er Jahren die vielen K-Gruppen entstanden und den Menschen beibringen wollten, wie sie zu leben und zu denken hätten.

Demskis Buch begibt sich auf eine Suche nach dem A im Kreis an Wänden, Schildern, Bäumen und auch Mülleimern, das man inzwischen nicht mehr so oft findet. Deshalb ist das Buch voller Bilder von dem eingekreisten A, die auf zahlreichen gemeinsamen „Expeditionen“ ihre Freundin Ute Dietz gemacht hat. Das Buch schrieb sie „aus reinem Vergnügen, […] ohne Anspruch auf Wissenschaftlichkeit oder Vollständigkeit, nur, um herauszufinden, was [sie] an dieser gesetzlosen Bande seit über einem halben Jahrhundert bezaubert“.

Ihr Buch ist ein Wechsel aus historischen Geschichten über Anarchistinnen und Anarchisten und Teilen mit sehr emotionalen Beschreibungen dessen, was Anarchistinnen und Anarchisten antreibt. Dabei überhöht sie in meinen Augen manchmal das „empfindliche libertäre Pflänzchen“ und deren Protagonistinnen und Protagonisten. Aber es pinselt einem natürlich den Bauch und tut ungemein gut, wo man ansonsten immer wieder diskreditiert wird oder worden ist.

Demskis historische Einlassungen sind nicht immer tiefgehend, können sie auch nicht sein, und eher biografischer Natur. So wird in dem Kapitel über Peter Kropotkin, wenn auch in schöner Sprache, nur sein Leben beschrieben, vor allem anhand seiner Memoiren. Man liest nichts über seine Ideen, den Wohlstand für Alle, die Gegenseitige Hilfe und die Ethik. Ähnlich ist es mit Emma Goldmann und Alexander Berkman. Aber natürlich kann der Anriss dieser Biografien die „Demski-Lesergemeinde“, die in der Mehrzahl bisher wohl nichts von diesen Menschen und deren Gedanken wusste, zum Weiterlesen und vielleicht Weiterdenken anregen.

Was aber das Weiterlesen angeht, ist auch Vorsicht geboten. Auf den letzten zwei Seiten ihres Buches erwähnt Demski, in tragischer Weise aktuell, Nestor Machno, der mit seiner Bauernarmee von 1918-1921 in der Ukraine kämpfte, genau in dem Gebiet, in dem sich heute die Ukrainische Armee den Invasoren aus Russland entgegenstellt. Sie beschreibt Machnos Kampf, der zur Selbstverwaltung und herrschaftsfreien Gesellschaft führen sollte. Und zum Weiterlesen empfiehlt sie das Buch von Mark Zak, Erinnert Euch an mich. Dieses Buch von 2018 kannte ich noch nicht und habe es mir gekauft und gelesen. Nach der Lektüre dachte ich, hoffentlich lesen es nicht zu viele der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Lesung in Oberursel, denn es offenbart einen ziemlich grausamen Machno, der nicht sonderlich viel von einem scheuen und empfindlichen libertären Pflänzchen hat.

Und dann war ich etwas erstaunt, dass im drittletzten Kapitel steht, „dass wir Franziska zu Reventlow, Zenzl Mühsam, Hedwig Lachmann [Anm.: die Frau von Gustav Landauer] und andere [Frauen] noch genauer anschauen werden“. Aber außer einer Erwähnung, dass Zenzl Mühsam, die Frau von Erich Mühsam, im Gulag Stalins landete, kam absolut nichts mehr.

Dafür erfahren wir in dem Buch etwas über die Hobo-Frau Bertha, über Bakunin, die anarchistischen Uhrmacher und Uhrmacherinnen in St. Imier in der Schweiz, über die gerade ein Kinofilm erschienen ist (Unruh), die Münchner Räterepublik, aber auch Banksy, den street art-Künstler.

Ein Kapitel fällt zumindest in meinen Augen etwas aus der Thematik. Es handelt von Reich-Ranicki, mit dem Demski in einem Haus in Frankfurt gewohnt hat, Karl Lagerfeld und Udo Lindenberg, die sie als Anarchen (nicht Anarchisten) beschreibt. Das Kapitel ist zwar unterhaltsam geschrieben, aber Ernst Jünger, der den Begriff bekannt gemacht hat, stellt den Anarchen bewusst gegen den Anarchisten. In seinem Roman Eumeswil schreibt er: „Der Anarchist ist abhängig – einmal von seinem unklaren Wollen, zweitens von der Macht. Er folgt dem Mächtigen als sein Schatten […] Die positive Entsprechung des Anarchisten ist der Anarch […] Der Monarch will viele, ja alle beherrschen; der Anarch nur sich allein“1. Der Protagonist in Eumeswil, Manuel Venator, ist eher eine Anlehnung an Max Stirners Einzigen und nicht so sehr an einen Anarchisten, als den sich Stirner auch nicht bezeichnet hat. Aber das wäre ein eigenes Thema.

Insgesamt hat mir die Lektüre des Buches – jenseits des Bauchpinselns – viel Spaß gemacht, weil es gut geschrieben und flott zu lesen ist. Der Erkenntnisgewinn ist in Bezug auf das, was historisch über einige Anarchistinnen und Anarchisten geschrieben wird, nicht sehr groß, aber das positive Bild von unabhängigen, freiheitsliebenden Menschen, die nicht als naive Idealisten dargestellt werden, ist in der heutigen Zeit sehr wohltuend.

Stephan Krall

Literatur:

  • Ernst Jünger: Eumeswil, Stuttgart: Klett Kotta, 1977.
  • Mark Zak: Erinnert euch an mich – Über Nestor Machno. Porträt des ukrainischen Anarchisten, Hamburg: Edition Nautilus, 2018.

Quelle: espero Nr. 7, Juli 2023, S. 286-289.