Schriften. Von Heinrich Vogeler

Herausgegeben von Walter Fähnders und Helga Karrenbrock, Bielefeld: Aisthesis Verlag, 2022, Softcover, 289 Seiten, div. Abb., 978-3-8498-1779-4, 25,00 € [Direktkauf bei aLibro]

Auf der Suche nach dem Neuen Menschen

Künstler schreiben, aber das macht sie nicht unbedingt zu Schriftstellern, da es sich oft um persönliche Aufzeichnungen handelt, denen es an literarischer Qualität mangelt. Einige Künstler sind jedoch sowohl in der bildenden Kunst als auch in der Literatur tätig, vor allem in der Moderne, wo die Grenzen zwischen den Künsten immer häufiger überschritten werden. Zu ihnen gehörte Heinrich Vogeler (1872-1942), ein Multitalent, das als Maler, Grafiker, Buchgestalter, Designer, Architekt, Pädagoge, politischer Aktivist und nicht zuletzt auch als Schriftsteller aktiv am kulturellen und politischen Leben seiner Zeit teilnahm. Der Nachwelt ist Heinrich Vogeler vor allem als Jugendstilmaler und Gründer des Barkenhoffes in Worpswede bei Bremen bekannt, einem anarchokommunistischen Siedlungsprojekt, das Kunst, Handwerk und soziale Gemeinschaft zu verbinden suchte.

Während Heinrich Vogeler als Maler und Designer nach dem Zweiten Weltkrieg in zahlreichen Ausstellungen und Biografien gewürdigt wurde, fand sein schriftstellerisches Werk ungleich weniger Beachtung. Es umfasst eine Vielzahl von Büchern, Broschüren, Flugblättern und Aufsätzen, in denen er sich jedoch kaum mit seinem eigenen künstlerischen Schaffen auseinandersetzt. Es handelt sich vor allem um diskursive, essayistische, politische und sozialkritische Texte sowie um Reiseberichte aus Russland.

Anlässlich des 150. Geburtstages und 80. Todestages von Heinrich Vogeler im Jahr 2022 haben Walter Fähnders und Helga Karrenbrock im Bielefelder Aisthesis Verlag einen Sammelband herausgegeben, der erstmals eine repräsentative Auswahl der zu Lebzeiten Vogelers veröffentlichten Schriften enthält und dabei das gesamte Spektrum seines literarischen Schaffens berücksichtigt. So enthält der Band neben Essays zur Kunst, politischen Schriften zur Revolution und Pädagogik auch tagespolitische journalistische Arbeiten und Reiseberichte aus Russland. Mit den chronologisch geordneten Texten folgen die Herausgeber Vogelers Lebensstationen von der Barkenhoff-Zeit über die Berliner Jahre bis zu seinem letzten Jahrzehnt in der Sowjetunion. Viele der im Sammelband berücksichtigten Texte Vogelers, darunter programmatische Schriften, Zeitschriftenartikel und Reportagen, werden in dem Buch zum ersten Mal seit ihrem Erscheinen wieder veröffentlicht.

Der Sammelband zeigt die Bandbreite seines literarisch-publizistischen Schaffens, das sich vor allem dem Thema des „Neuen Menschen“ widmete. Unter dem „Neuen Menschen“ verstand der damalige Anarchokommunist Vogeler einen Menschen, der in der Lage ist, jenseits von Kapitalismus und bürgerlicher Gesellschaft neue, freie und gemeinschaftliche Lebensformen zu entwickeln. Die Utopie des Neuen Menschen und des Neuen Lebens thematisierte Vogeler nicht nur in seinen Schriften, Gemälden und Grafiken, sondern versuchte sie auch in der kleinen Gemeinschaft der von ihm nach Ende des Ersten Weltkrieges gegründeten Barkenhoff-Kommune zu verwirklichen.

Heinrich Vogelers literarisches Debüt war der Gedichtband Dir von 1899, der später mehrfach nachgedruckt (zuletzt 2015 als Reprint im Insel Verlag) und daher in der vorliegenden Sammlung nicht berücksichtigt wurde. Danach und während des Ersten Weltkriegs, an dem er als Kriegsfreiwilliger teilnahm, legte Vogeler eine publizistische Pause ein. Erst gegen Ende des Krieges erschien im Januar 1918 sein Märchen vom lieben Gott, ein als Brief an den deutschen Kaiser Wilhelm II. gerichteter Friedensappell, der ursprünglich nicht zur Veröffentlichung bestimmt war, aber noch während des Krieges als hektographiertes, illegal verbreitetes Flugblatt in Umlauf kam und später immer wieder – auch von Vogeler selbst – nachgedruckt wurde. Dieser Brief brachte Vogeler wegen „vorübergehender manisch-depressiver Unzurechnungsfähigkeit“ die Entlassung aus dem Heer und für etwas mehr als zwei Monate die Einweisung in eine „Beobachtungsstation für Geisteskranke“ ein, die ihn aber vermutlich vor der Hinrichtung als Landesverräter bewahrte, wie sie die Oberste Heeresleitung gefordert hatte. Während der Novemberrevolution 1918/1919 engagierte sich Vogeler bis zur Niederschlagung der Bremer Räterepublik im Februar 1919 im regionalen Arbeiter- und Soldatenrat.

Vogelers Brief an den Kaiser bildet den Auftakt zu seiner nach Kriegsende einsetzenden sozialrevolutionären Publizistik, die sein literarisches Schaffen bis 1923, dem Ende der revolutionären Nachkriegskrise, dominieren sollte. Seine im ersten Teil des Sammelbandes berücksichtigten Schriften aus dieser Zeit, die als Broschüren, Zeitschriftenaufsätze und Zeitungsartikel erschienen, zeigen ihn vor allem als politisch engagierten Autor, was sich – wie man lesen kann – auch in den Titeln seiner Veröffentlichungen widerspiegelt:

  • Kommunismus (1919)
  • Ein offener Brief zum Frieden unter den Menschen (1919)
  • Das Neue Leben. Ein kommunistisches Manifest (1919)
  • Siedlungswesen und Arbeitsschule (1919)
  • Arbeiter-Union (1919)
  • Die Frau in der kommunistischen Gesellschaftsordnung (1919)
  • Proletkult. Kunst und Kultur in der Kommunistischen Gesellschaft (1920)
  • Die Freiheit der Liebe in der kommunistischen Gesellschaft (1920)
  • Siedlung und Schulung (1922)
  • Barkenhoff. Erfahrungen in einer kommunistischen Produktionsschule (1923)

Die Zeit der Barkenhoff-Kommune ist jene Epoche im Leben von Heinrich Vogeler, in der er die engste ideologische Verbindung zum Anarchismus erkennen lässt, wobei er ein durchaus eigenständiges Anarchismusverständnis besaß, das sich aus einem revolutionär interpretierten Christentum, den pazifistisch-anarchistischen Ideen Lew Tolstois und den anarchokommunistischen Ideen Pjotr A. Kropotkins speiste. Artikel von ihm erschienen in den ersten Nachkriegsjahren in Der freie Arbeiter, dem Organ der Föderation kommunistischer Anarchisten Deutschlands, sowie in Der Syndikalist, dem Organ der sozialrevolutionären Gewerkschaften Deutschlands, ab 1920: Organ der Freien Arbeiter-Union Deutschlands, für das er auch einige Male das Titelblatt grafisch gestaltete. Auch in der von Franz Pfemfert herausgegebenen Zeitschrift Die Aktion lassen sich in den Jahren von 1918 bis 1920 Beiträge von ihm finden. Daneben schrieb Vogeler auch gelegentlich für die regionale Presse, wie die Worpsweder Zeitung oder die Bremer Zeitung, sowie für einige Zeitschriften aus dem Umfeld der linken Jugendbewegung.

Das Ende der revolutionären Nachkriegskrise in Deutschland und des Barkenhoff-Experiments führte bei Heinrich Vogeler 1923 zu einer radikalen ideologischen Neuorientierung. Er zog nach Berlin, trat dort in die KPD ein und orientierte sich fortan als weitgehend linientreuer Parteikommunist an Sowjetrussland, wohin er 1923/24 auch eine Reise unternahm, über die er in Artikeln und in seinem 1925 erschienenen Buch Reise durch Russland. Die Geburt des Neuen Menschen berichtete. Es sollte das letzte Buch sein, das Vogeler zu Lebzeiten in Deutschland veröffentlichte. In den folgenden Jahren unternahm er weitere Reisen nach Russland, um schließlich 1931 direkt in die Sowjetunion zu emigrieren, wo er seine künstlerischen Ausdrucksformen an den dort vorherrschenden Sozialistischen Realismus anpasste.

Zwar sind die im zweiten und dritten Teil des Sammelbandes berücksichtigten Schriften Heinrich Vogelers von 1924 bis zu seinem Tod 1942 für die Geschichtsschreibung des Anarchismus und des verwandten libertären Linksradikalismus weniger interessant als seine Schriften aus der revolutionären Nachkriegszeit. Gleichwohl sind auch sie, wie die im vierten Teil des Buches veröffentlichten autobiografischen Texte Vogelers deutlich machen, Ausdruck einer markanten Persönlichkeit, deren beeindruckendes literarisches Werk in den Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes wiederentdeckt werden kann..

Jochen Schmück

Quelle: espero Nr. 8, Januar 2024, S. 378-381.