Anarchismus neu gedacht: Die espero (N.F.) feiert ihre zehnte Ausgabe

Damit hatte keiner von uns gerechnet. Als wir am frühen Neujahrsmorgen 2020 die digitale Wiedergeburt unserer libertären Zeitschrift espero mit der Nachricht „Wir sind wieder da!“ auf unserer Homepage ankündigten, hatten wir eher bescheidene Erwartungen an den Erfolg des Projektes. Die erste Folge der von 1993 bis 2013 noch in gedruckter Form erschienenen espero hatte zumindest einen kleinen, aber feinen Kreis von Leser:innen erreicht, von denen jedoch nicht wenige auf unsere Ankündigung der neuen digitalen Ausgabe mit Skepsis, teilweise sogar mit Ablehnung des E-Zine-Formats reagiert hatten. 

Umso überraschter waren wir, als wir nach der Veröffentlichung der Nullnummer feststellten, wie die Downloadzahlen der neuen digitalen espero von Tag zu Tag kontinuierlich anstiegen. Ein halbes Jahr später, als wir im Juli 2020 mit espero, Nr. 1 die erste reguläre Ausgabe auf unserer Homepage veröffentlichten, hatten sich bereits über 8.000 Leser:innen die Nullnummer von unserer Website heruntergeladen. Wie die Download-Statistik auf unserer Homepage deutlich macht, sind es in der Folgezeit deutlich mehr Leser:innen geworden, als wir uns beim Neustart der espero erhofft hatten. Ganz besonders begeistert uns die Tatsache, dass wir mit der neuen espero über den deutschen Sprachraum hinaus zahlreiche Autor:innen und Leser:innen überall auf der Welt gefunden haben, die unsere Zeitschrift zu einem transnationalen Forum für den globalen libertären Gedankenaustausch machen.

espero, Nr. 9/10, Dezember 2024,
552 Seiten, zahlr. Illustr. E-Zine (PDF),
Download per Mausclick auf das Cover.

Heute feiern wir ein kleines Jubiläum: Die zehnte Ausgabe der espero ist erschienen! Das wäre ohne die Unterstützung unserer Autor:innen, Übersetzer:innen und vieler anderer Freund:innen des Projektes nicht möglich gewesen. Ihr Engagement, ihre Arbeit und auch ihre Spenden halten die espero am Leben, wofür sich das Team der espero-Macher:innen an dieser Stelle bei allen herzlich bedanken will.

Mit dieser Ausgabe können wir noch ein weiteres Jubiläum feiern: den 100. Geburtstag von Colin Ward (1924–2010), der in den 1960er Jahren in England den modernen pragmatischen Anarchismus begründete, in dessen Tradition wir auch die neue espero sehen. Die renommierte britische Historikerin Sophie Scott-Brown würdigt in ihrem Aufsatz sein Werk und seine Bedeutung für den ab den 1960er Jahren entstehenden Neuen Anarchismus.  In der Tradition des von Colin Ward begründeten pragmatischen Anarchismus steht auch Ulrich Klemm, der mit seinem Beitrag eine moderne Theorie libertärer Vergesellschaftung präsentiert.

Ein zweiter Schwerpunkt dieser Ausgabe behandelt den Israel-Palästina-Konflikt aus libertärer Sicht. Kay Schweigmann-Greve zeigt, wie Martin Buber diesen Konflikt durch ein binationales Modell der jüdisch-arabischen Kooperation zu lösen suchte. Auch der jüdisch-amerikanische Anarchist Fredy Perlman und der israelische Anarchist Uri Gordonsetzen sich in ihren Beiträgen mit diesem Konflikt auseinander und versuchen, libertäre Ansätze zu seiner Lösung aufzuzeigen.

Der dritte Themenschwerpunkt beleuchtet die Wechselbeziehungen zwischen dem Anarchismus und der Punk-Bewegung in unterschiedlichen politischen Kontexten. So reflektiert Peter Seyferth seine persönlichen Erlebnisse in der westdeutschen Punkszene und analysiert einige ihrer Texte. Grzegorz Piotrowski untersucht die Rolle des Punkrock für die regimekritische Mobilisierung und politische Prägung der Jugend im Polen der 1980er Jahre, und Mariana Calandra beleuchtet in ihrem Beitrag die vielfältigen Verbindungen zwischen der anarchistischen Bewegung und der Punkkultur in Südamerika in den Jahren 1983 bis 1993.

Es folgen Beiträge, die ein breiteres thematisches Spektrum abdecken. So beschreibt Uri Gordon in einem weiteren Beitrag Leben und Werk Fredy Perlmans, den er neben Noam Chomsky und Murray Bookchin zu den drei großen Gründungsgestalten des neuen Anarchismus in den USA zählt. Außerdem gibt es in dieser Ausgabe noch einen „Nachschlag“ zu unserem Themenspecial Anarchismus und Wissenschaft in espero, Nr. 8, in dem sich der libertäre Biologe Stephan Krall explizit mit dem Naturwissenschaftler Peter Kropotkin auseinandersetzt und deutlich macht, welch großen Einfluss der russische Anarchist auf den wissenschaftlichen Diskurs seiner Zeit hatte.

Das ikonische Ⓐ feiert seinen 60. Geburtstag.

Tomás Ibáñez, Amedeo Bertolo und Marianne Enckell beleuchten in ihrem Beitrag die von Legenden umwobene Entstehungs- und Wirkungs­geschichte des „A im Kreis“, jenes ikonischen Symbols des Anarchismus, das Ibáñez vor genau 60 Jahren in Paris „erfunden“ hat, womit wir ein weiteres Jubiläum würdigen können. Im Anschluss daran stellt Ewgeniy Kasakowin seinem Beitrag den russisch-georgischen Anarchisten Nestor Kalandarischwilli (1876-1922) vor, der während des Russischen Bürgerkriegs in Sibirien als Partisan agierte. Die als Doppelnummer erscheinende neue Ausgabe der espero klingt aus mit einem literarisch-philosophischen Dialog über die Theokratie als Anarchie, womit sich Thomas Keith auf die anarchische Hochkultur der Richterzeit im vorköniglichen Israel bezieht.

Auch diese Ausgabe der espero schließt mit der Vorstellung aktueller Neuerscheinungen, diesmal zu Themen wie urbane Gemeinschaftsgärten, Bürokratie, Frühanarchismus und Anarchafeminismus, Leben und Werk von Élisée Reclus und Peter Kropotkin sowie einem Überblick über die vielfältigen libertären Konzepte, wie eine herrschaftsfreie und egalitäre Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gestaltet werden könnte.

Wir wünschen unseren Leser:innen eine gute Lektüre und hoffen, dass die vielseitigen Beiträge in dieser Jubiläums-Doppelausgabe anregende Gedankenanstöße für das kommende Jahr bieten.

Das espero-Redaktionskollektiv
in Bad Nenndorf, Berlin, Köln und Potsdam

P.S.
Vielleicht hast Du schon einmal darüber nachgedacht, Dich an einem Projekt wie der espero zu beteiligen? Dann wirf doch mal einen Blick in unsere espero-Mitmachbörse, die Du ganz am Schluss unserer aktuellen Ausgabe findest. Vielleicht ist ja genau die Aufgabe dabei, die Dich anspricht und die Dir gleichzeitig wertvolle praktische Erfahrungen in der professionellen Medienarbeit vermitteln kann, zum Beispiel als Autor:in, Übersetzer:in, Korrektor:in, Redakteur:in oder Web-Entwickler:in.