Überwachungspolitik in Corona Zeiten. Eine philosophische Debatte

In den letzten Monaten haben verschiedene Philosophen an einer Debatte bezüglich einer neuen Krankheit und ihren direkten Auswirkungen auf unsere Lebensweise teilgenommen: seine Auswirkungen auf die Geselligkeit, die Maßnahmen, die die Staaten ergreifen sollten oder nicht, die unvermeidliche Verwandlung der heutigen Gesellschaften angesichts der Herausforderung, die diese Krankheit darstellen würde, entweder in Bezug auf die Ausarbeitung von horizontalen sozialen Bindungen, oder im Hinblick auf die Eskalation der Ungleichheit.

Ich werde in diesem kurzen Beitrag nur auf die ursprünglichen Gesprächspartner dieser Debatte verweisen: Giorgio Agamben (Italien), Slavoj Žižek (Slowenien) und Byul Chung Han (Südkorea-Deutschland). Der Beitrag ist in vier Teile gegliedert: eine kurze Darstellung jeder Position und eine abschließende Reflexion über die Position der Debattierenden in Bezug auf die Überwachungspolitik. Obwohl es in diesem Beitrag um staatliche Überwachung in Corona Zeiten geht, würde ich gerne darauf hinweisen, dass diese Debatte sich hauptsächlich mit der „europäischen“ Erfahrung der Krankheit befasst und dass viele Teilnehmer dieser Debatte ihre Unangemessenheit bezüglich der lateinamerikanischen und asiatischen Erfahrungen nicht vollständig zu verstehen scheinen.

Position Agambens

Der Ursprung der Debatte kann auf die Schriften von Giorgio Agamben zurückgeführt werden, die auf der Internetseite https://www.quodlibet.it/ veröffentlicht waren, in denen Agamben stark die Coronamaßnahmen der italienischen Regierung kritisierte. Agamben hat in seinen aufeinanderfolgenden Beiträgen bekräftigt, dass die Krankheit eine bloße Ausrede ist, damit der Staat einen Ausnahmezustand begründen kann, dass die Krankheit eine bloße Influenza ist und dass der Kranke vom Staat dem Terroristen gleichgesetzt wird, d.h.: er muss isoliert werden, er muss seiner Freiheit beraubt werden und deren verfassungsmäßige Garantien müssen aufgehoben werden: alles mit dem alleinigen Zweck, den Ausnahmezustand zu rechtfertigen. Ich möchte hier an die berühmte Definition eines anderen europäischen Philosophen, Carl Schmitt, erinnern, die die Souveränität mit dem Monopol der endgültigen Entscheidung gleichsetzt: der Staat wäre der alleinige Agent mit dem Recht, den Ausnahmezustand zu erklären. So verstanden der Ausnahmezustand als ausschließliche Autorität des Staates, scheinen Agambens Einwände ein bloßer Zirkel im Beweis zu sein: der Staat bemüht sich um die Zustimmung der Bürger, um den Ausnahmezustand zu rechtfertigen, obwohl das Recht zur Erklärung des Ausnahmezustandes Teil seiner Natur ist.

Position Žižeks

Neben Agamben hat an dieser Debatte ein internationaler Best Seller wie Slawoj Žižek teilgenommen. Žižek betont in seinem neuen Buch Pandemic!, dass die Bedrohung durch die Epidemie nicht nur die staatliche Kontrolle vergrößerte, sondern auch andere Formen der Solidarität, die uns erlauben würden, einen Kommunismus der Zukunft vorauszusagen. Die Bedrohung durch Virusinfektionen hat auch neuen Formen lokaler und globaler Solidarität einen gewaltigen Schub gegeben und die Notwendigkeit der Kontrolle über die Macht von Staaten deutlich gemacht. In diesem Sinne ist die Reaktion Agambens eine extreme Form einer weit verbreiteten linken Haltung, die die „überstrapazierte Panik“ vor der Ausbreitung des Virus als eine Mischung aus sozialer Kontrollmacht und rassistischen Elementen interpretiert. Žižek zufolge lohnt es sich jedoch zu fragen, warum die Staatsmacht daran interessiert wäre, die Panik zu fördern, die von Misstrauen gegenüber der Staatsmacht begleitet wird. Sowohl die extreme Rechte als auch die „falsche“ Linke weigern sich, die Realität der Epidemie zu akzeptieren, und „verwässern“ sie im Namen ihrer sozialen Bedeutung. Trump und seine Anhänger bestehen wiederholt darauf, dass die Epidemie eine Verschwörung der Demokraten und Chinas sei, damit er die nächsten Wahlen verlieren werde. Parallel weisen einige linke Amerikaner auf die Identifizierung zwischen der vom Staat vorgeschlagenen Maßnahmen und der Fremdenfeindlichkeit hin und daher bestehen sie z.B. darauf, sich die Hände zu schütteln. Aber keine Hand zu schütteln und sich bei Bedarf zu isolieren, können als neue Formen der Solidarität angesehen werden: der körperliche Abstand impliziert, Respekt vor dem anderen zu haben, weil man auch Träger eines Virus sein kann. Aus diesem Grund besteht die Herausforderung für Europa darin, zu zeigen, dass das, was China getan hat, transparenter und demokratischer gemacht werden kann, d.h., die soziale Isolation zu garantieren, ohne die autoritäre Staatsmacht zu anwenden.

Position Hans

Han vergleicht den „europäischen Fall“ mit dem „asiatischen Fall“ in einem Artikel in Die Welt, veröffentlicht am 23. März 2020, und offenbart den überaus europäischen Charakter der Debatte. Im Gegensatz zu Agamben lehnt Han nicht die Gefährlichkeit der Krankheit oder die Existenz einer Pandemie ab. Han zufolge ist die Pandemie eine Herausforderung für das europäische Paradigma der individuellen Freiheit, die die Europäer mit dem Dilemma konfrontiert, das chinesische Modell zu verwenden, um die Krankheit zu kontrollieren, oder bei ihren vermeintlichen historischen Werten zu bleiben, d.h., ihre „Solidarität“ und „Hygiene“. Han erklärt, dass der Souverän ist, der über Daten verfügt. In diesem Sinne bekräftigt er, dass der asiatische Vorteil, der Krankheit zu begegnen, auf der Tatsache beruht, dass Asiaten kein kritisches Bewusstsein für die digitale Überwachung haben, sodass der Staat digitale Daten nach eigenem Ermessen nutzen kann, um Coronafälle zu identifizieren. Nach dieser Definition wäre China der souveränste Staat der Welt. Daher glaubt Han im Gegensatz zu Žižek, dass die Pandemie weit davon entfernt ist, einen Solidaritätskommunismus der Zukunft zu fördern, sondern vielmehr eine Intensivierung der Überwachungskontrollen auf globaler Ebene.

Kurze kritische Reflexion über o. g. Positionen

Wenn man die oben beschriebenen Positionen betrachtet, kann bestätigt werden, dass sowohl die Positionen von Agamben als auch von Han intrinsisch kohärente Positionen sind, da die Argumentation jedes Autors von dem Begriff abhängt, von dem sie ausgehen: wenn der Staat dadurch gekennzeichnet ist, dass er der einzige Agent ist, der das Recht hat, den Ausnahmezustand zu erklären, ist es selbstverständlich, ihn jedes Mal zu erklären, wenn sich eine Gelegenheit ergibt (z. B. eine Pandemie, vgl. mit Agamben). Wenn der Souverän ist, der über Daten verfügt, ist es für Staaten selbstverständlich, Daten zu sammeln, um ihre Souveränität zu festigen und gleichzeitig eine Pandemie besser zu kontrollieren (vgl. mit Han). Kohärenz garantiert jedoch kein vollständiges Verständnis der Realität. Es ist notwendig, über bloße Begriffe hinaus zu überlegen und zu bewerten, ob alle Fälle unter derselben Idee betrachtet werden können. Žižeks Fall ist anders, weil er nicht an die Kohärenz der Aussagen appelliert, sondern an unseren vermeintlichen gesunden Menschenverstand. Sein Vorschlag ist jedoch nicht kontrastierbar: er prophezeit einen Kommunismus der Zukunft (den Kommunismus der universellen Solidarität), der seiner Meinung nach keinen historischen Präzedenzfall gehabt hätte. Aber ähnlich wie Begriffe kontrastiert werden sollten, muss das Ideal einer Solidarität der Zukunft mit den konkreten Fällen aktueller Solidarität angesichts der Pandemie kontrastiert werden.

Wenn man Agambens Erklärungsmodell auf einen paradigmatischen Fall des lateinamerikanischen Faschismus wie den der gegenwärtigen brasilianischen Regierung anwendet, findet dieses Modell seine völlige Umkehrung: Bolsonaro, ein erklärter Faschist, behauptet gegen die Regierungen von San Pablo und Rio de Janeiro genau das gleiche wie Agamben, nämlich dass die Vorbeugung ungerechtfertigt sei und die Freiheit der Menschen einschränken würde, dass das Coronavirus „eine leichte Grippe“ sei und dass es leider Menschen gebe, die sterben werden, aber die Statistiken würden über die Gefahr von die Krankheit oder das Ausmaß ihrer Ausbreitung lügen. Bolsonaro bekräftigt auch, dass er die Grenzen zu den Nachbarländern nicht kontrollieren werde und führte sogar eine Kampagne durch, damit die Bevölkerung nicht zu Hause bleibt. Es ist klar, dass Bolsonaro weder ein Garant noch ein Verfechter der bürgerlichen Freiheiten ist und dass Agamben ein Antipode von Bolsonaro ist. Es ist aber auch klar, dass Agamben die Diagnose nicht verfehlt, weil er sich nicht auf die Realität bezieht, sondern auf einen bloßen Begriff, d.h., den Begriff vom Ausnahmezustand.

Wenn man Žižeks Erklärungsmodell auf die argentinische Regierung anwendet, wird die unabhängige (freiwillige) Solidarität, die Žižek prophezeit, mit der (erzwungenen) staatlichen Politik verwechselt. Zwangspolitik wird von der argentinischen Regierung (international gelobt für ihren Kampf gegen Pandemie) mit einer Rhetorik der Solidarität angewandt. In Argentinien gibt es de facto einen nicht deklarierten Ausnahmezustand. Ein Großteil der argentinischen Gesellschaft unterstützt die Regierungspolitik mit den gleichen Argumenten wie Žižek (Entwicklung neuer Formen der Solidarität bei echter Bedrohung, Bedeutung der Rolle des Staates bei der Bekämpfung der Pandemie, usw.), aber diese Argumente lassen die Tatsache außer Betracht, dass wenn man sich freiwillig isolieren kann, dies schon ein Privileg ist. In einem Land, in dem die Arbeitslosenversicherung die meisten Arbeitslosen nicht erreicht, ist der Unterschied zwischen zu Hause bleiben und nicht zu Hause bleiben der Unterschied zwischen nicht essen oder essen und Abstandssolidarität ist inkompatibel mit Ernährungssolidarität. In diesem Sinne sollte Žižek gefragt werden, ob der Kommunismus der Zukunft, den er prophezeit, ein Staatskommunismus oder ein staatenloser Kommunismus sein sollte.

Das Erklärungsmodell Hans erlaubt es uns, einen sehr relevanten Aspekt der Pandemiekontrolle hervorzuheben, der von keinem der drei Philosophen berücksichtigt wird: die Beziehung zwischen Kontrolle und der Ausdehnung des Gebiets. Sowohl Han als auch Agamben sind nicht per se gegen die Existenz des Staates, sondern gegen Überwachungskontrolle. Daher prangert Han den Gebrauch von Kameras auf chinesischem Gebiet (ca. 200.000.000 Überwachungskameras) und die uneingeschränkte Kontrolle der Bewegungen der Bürger an. Es ist jedoch zumindest naiv, die europäische Überwachung von der asiatischen so drastisch zu unterscheiden: dass die europäische Datenschutzpolitik die Erhebung von Daten durch Unternehmen verhindert, impliziert nicht, dass die staatlichen Geheimdienste nicht diese Daten erheben. Außerdem, ein einfacher Dreisatz bestätigt, dass die fast 5.200.000 Überwachungskameras auf deutschem Gebiet (etwas mehr als 350.000 km2) ziemlich proportional zur Anzahl der auf chinesischem Gebiet gefundenen Kameras (fast 9.600.000 km2) sind. Auf jeden Fall ist es schwierig vorherzusagen, wie ein Staat eine Pandemie in einem großen Gebiet effektiv eindämmen kann, ohne dies mithilfe von Technologie und Big Data Analyse zu tun. Dies ist der Fall in großen Ländern wie Argentinien, Peru oder Kolumbien: der Mangel an Technologie impliziert die Anwendung repressiverer Maßnahmen. Es ist bemerkenswert, dass Han mehr als einmal bekräftigte, dass Europa bezüglich der Kontrolle der Krankheit versagt. Und es ist klar, dass Han gegen digitale Kontrollen und die Einschränkung von Bewegungen ist. Daher ist für die obengenannten Autoren eine obligate Frage, wie ein Staat die Einhaltung von Sicherheitsmaßnahmen gewährleisten kann, ohne seine Nötigungsmacht zu nutzen. Der vom Staat unabhängige gesellschaftliche Weg zu einer universellen Solidarität angesichts der Pandemie wurde leider von keinem von ihnen in Betracht gezogen.

Daniel Perrone

Hauptbibliographie:

Byun Chul Han (2020). „Wir dürfen die Vernunft nicht dem Virus überlassen“. In Die Welt, 23-3-2020. Online verfügbar (nur Abonnenten) in: https://www.welt.de/kultur/plus206681771/Byung-Chul-Han-zu-Corona-Vernunft-nicht-dem-Virus-ueberlassen.html
Giorgio Agamben (2020). „L’invenzione di un’epidemia“; „Contagio“ und „Chiarimenti“. Online verfügbar in: https://www.quodlibet.it/
Slavoj Žižek (2020). PAN(DEM)IC!: COVID-19 Shakes the World. OR Books, New York – London.