„Hoppla, was machen wir denn da?“ Ein Interview mit David Graeber über die Corona-Krise

Das Interview mit dem auch wegen seines anarchistischen Engagements international bekannten Anthropologen David R. Graeber (1961-2020) führte der Journalist Lenart J. Kučić für die in Slowenien erscheinende und von ihm mitherausgegebene radikal-demokratischen Onlinezeitschrift DISENZ[1]. Leider ist David Graeber am 2. September 2020 in Venedig verstorben. Das vorliegende Interview ist eines der letzten, das er vor seinem unerwarteten Tod gegeben hat.

Jochen Schmück
für die espero-Redaktion  


Vorbemerkung von Lenart J. Kučić

Graeber DavidDer libertäre Anthropologe David R. Graeber (1961-2020).Es war ein warmer Frühlingsabend in London, und David Graeber, Professor für Anthropologie an der LSE (London School of Economics and Political Science), saß auf einer Dachterrasse. Wegen des weltweiten Reiseverbots aufgrund der Coronavirus-Pandemie wurde unser Gespräch über das Internet übertragen. Wir sprachen aber nicht nur über den neuen Virus und seine Folgen für Gesellschaft, Politik und Wirtschaft. Wir ergriffen die seltene Gelegenheit, um auch über die meisten seiner veröffentlichten Werke zu sprechen - angefangen von Frei von Herrschaft - Fragmente einer anarchistischen Anthropologie, über Schulden - Die ersten 5000 Jahre sowie Bürokratie - Die Utopie der Regeln bis zu seinem jüngsten Buch Bullshit-Jobs - Vom wahren Sinn der Arbeit. All diese Werke haben während der Corona-Krise noch an Bedeutung gewonnen.

Professor Graeber präsentiert sich als Anthropologe und Anarchist. Er ist jedoch nicht glücklich, wenn man ihn als "anarchistischen Anthropologen" bezeichnet, weil es eine solche Disziplin nicht gibt, wie er während des Gesprächs erklärte. Der Professor ist auch ein politischer Aktivist. Er hat sich in den letzten Jahrzehnten an zahlreichen sozialen Bewegungen und Protesten beteiligt, und man bezeichnet ihn oft als Urheber des inoffiziellen Slogans der „Occupy Wall Street“-Bewegung: „Wir sind die 99 Prozent!“. Aber er besteht darauf, dass die Parole – wie auch alles andere in der Bewegung – das Ergebnis einer kollektiven Anstrengung gewesen ist.

In dem folgenden Interview, das ich mit ihm führte, gehen wir unter anderem auf die folgenden Fragen ein: Wie könnten demokratische Regierungen diese Gesundheitskrise nutzen, um ihren Bürgern autoritäre Maßnahmen aufzuzwingen? Warum streiken die Beschäftigten im Gesundheits- und Pflegewesen während der Pandemie nicht für höhere Löhne? Was würde passieren, wenn wir die Wall Street für ein paar Monate schließen würden? Wie können anarchistische Prinzipien während der Krise Ordnung ins Chaos bringen? Warum wollen wir uns bei der Rettung unseres Planeten nicht auf die chinesische und die US-Armee verlassen?

Lenart J. Kučić, 16. Mai 2020


Das Interview

Lenart J. Kučić: Alle scheinen während der Coronavirus-Pandemie die gleiche Sprache zu sprechen – angefangen von progressiven und konservativen Regierungen bis hin zum Islamischen Staat (IS) und den Anarchist*innen: Bleibt zu Hause, wascht euch die Hände, meidet andere Menschen . . . Und ohne groß zu protestieren haben die Menschen den Behörden Folge geleistet. Sie sind zu Hause geblieben und haben die neuen Regeln akzeptiert. So etwas haben wir schon lange nicht erlebt. Was ist nur geschehen?

David Graeber: Nun, es gibt einfach nicht allzu viele Menschen, die verrückt genug sind, während einer Pandemie den ärztlichen Rat zu ignorieren.

Mich erinnert das an Henry Saint-Simon, den französischen politischen Denker des 19. Jahrhunderts, der vielleicht der Erste war, der auf die Idee gekommen ist, dass der Staat absterben könnte. Er argumentierte, dass, wenn man den Staat auf wissenschaftlicher Grundlage neu etablieren würde, er letztendlich nicht mehr auf den Zwang angewiesen wäre und deshalb nicht einmal ein Staat im heutigen Sinne eines Gewaltmonopols wäre.

Kučić: Warum?

Graeber: Aus demselben Grund, so sagte er, weil der Arzt Dir nicht damit drohen muss, Dich zu verprügeln, um Dich von dem Medikament zu überzeugen, das er Dir verschreibt. Du weißt, dass der Arzt etwas weiß, was Du nicht weißt, und Du gehst davon aus, dass der Arzt in Deinem besten Interesse handelt. Saint-Simon argumentierte, sobald der Staat rational auf wissenschaftlichen Prinzipien begründet sei, handelten die Bürger auf dieselbe rationale Weise, und Zwangsmaßnahmen würden unnötig werden. Vielleicht gäbe es ein paar Verrückte, die sich weigern, ihre Medikamente einzunehmen, aber es wären zu wenige, um einen großen Unterschied auszumachen.

Offensichtlich war das alles sehr optimistisch und naiv gedacht – deshalb hat Marx Leute wie Saint Simon als „utopische Sozialisten“ abgetan. Aber es gibt bestimmte Bereiche der Regierung, die immer noch beanspruchen, auf einer solchen rationalen Grundlage zu arbeiten. Und man könnte argumentieren, dass sie ihrem Wesen nach gar nicht Teil der Regierung sind.

Während der Studentenbewegung in Großbritannien im Jahr 2010 haben wir viel über diese Frage diskutiert. Wir waren meistens Anarchist*innen, aber wir glaubten an ein öffentliches Gesundheitssystem und ein öffentliches Universitätssystem. War das heuchlerisch von uns? Keiner von uns empfand dies als heuchlerisch, aber wir diskutierten viel über diese Frage. Vielleicht liegt das Problem darin, dass die Staaten die Existenz öffentlicher Institutionen – also solcher, die sowohl universell als auch gemeinnützig ausgerichtet sind – nicht zulassen, wenn sie diese nicht kontrollieren können. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Institutionen irgendwie von der gleichen Art sind wie die Armee oder das Gefängnissystem, die gänzlich Kreaturen des Staates sind.

(. . . Fortsetzung in espero, Nr. 2 | Januar 2021)


[1] Die in slowenischer und englischer Sprache erscheinende Online-Zeitschrift DISENZ wird von dem Institut für Demokratie und Soziales (UDESIN herausgegeben), das seit 2017 Sommerschulen anbietet, Stipendien vergibt und eigene Forschungsaktivitäten durchführt.


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