Kommt nach der Pandemie die Anarchie? Von Jochen Schmück

Eine Krise ist nicht nur etwas Neues und Vergängliches. Krisen wie die Coronakrise, die wir zurzeit durchleben, haben auch das Potenzial, die Menschen zu anderen gesellschaftspolitischen Vorstellungen anzuregen und neue organisatorische Realitäten zu schaffen. Krisen können so zu einem Moment des kollektiven Innehaltens werden, um darüber nachzudenken, welche Art von Leben und Zusammenleben wir künftig haben wollen.

covid 5507064 1920Wie die Pandemie der Pest zum Ende des 14. Jahrhunderts oder die Pandemie der „Spanische Grippe“ in den Jahren 1918 bis 1920 kann die Corona-Pandemie zu den großen Krisen der Menschheit gezählt werden. Diese Krisen haben bisher jeweils eine neue Epoche in der Geschichte der Menschheit eingeleitet, die das Leben ihrer Zeitgenoss*innen gravierend verändert hat. Auch die Corona-Pandemie unserer Tage wird die Menschen in eine neue Zeit führen, die sich deutlich von der Zeit vor Ausbruch des Coronavirus unterscheiden wird.

Der folgende Beitrag versucht aus libertärer Sicht Antworten auf die Frage zu geben, ob das, was wir jetzt in der Coronakrise an positiven und negativen Erfahrungen gemacht haben und noch machen, ein Wissen ist, das uns hilft, nach dem Ende der Pandemie eine bessere Welt zu schaffen, eine freiheitliche und solidarische Welt. Das mag sicher utopisch klingen, aber genau jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um sich Gedanken zu machen, wie wir morgen leben wollen. Bevor wir aber einen Blick auf die mögliche Welt von morgen werfen, wollen wir zurückblicken, um zu schauen, wie unsere Vorfahren die Pandemien ihrer Zeit erlebt haben und welche Konsequenzen sie aus ihnen gezogen haben.

 

1. Vor der Pandemie war die Anarchie

Eine Pandemie ist eine sich über Länder und Kontinente ausbreitende Infektionskrankheit. Pandemien gibt es erst, seit der Mensch sesshaft wurde und Tiere domestizierte, wodurch die Erreger der von den Tieren ausgehenden Infektionskrankheiten die Gelegenheit bekamen, den Menschen als Wirt zu erobern. Je größer die von den Menschen gehaltenen Tierbestände waren, desto größer war die Gefahr von Infektionen, und je dichter die Menschen zusammenlebten und je mobiler sie waren, desto besser verbreiteten sich die Krankheiten. Ganz besonders gilt dies seit der Zeit, als die Menschen Handel zu betreiben begannen und aus den Dörfern Städte und schließlich Metropolen wurden. Gleichzeitig sehen wir im Zuge dieser Entwicklung in der Geschichte der Menschheit den Staat entstehen, erst als eine Einrichtung zur Unterwerfung friedlicher Bauernvölker durch kriegerische Hirtenvölker, dann als eine militärisch-administrative Institution, die der Sicherung des Besitzes der durch den Handel reich und mächtig gewordenen Besitzenden diente.

Bevor der Staat und mit ihm die Epidemien und Pandemien kamen, lebten die Menschen über den Erdball verstreut als Jäger, Sammler und Hirten in autarken egalitären Gesellschaften, die – da es in ihnen keine politische Herrschaft gab – von Anthropologen als „regulierte Anarchie“, auch als „funktionierende Anarchie“ oder einfach nur als „Anarchie“ bezeichnet werden. Nach Auffassung des kanadischen Anthropologen Harold Barclay war die Anarchie als soziale Organisationsform kein seltenes Phänomen in der Geschichte der Menschheit, sondern sie war „im Gegenteil eine durchaus verbreitete Form von Gemeinwesen oder politischer Organisation“, die „für nahezu die gesamte menschliche Geschichte charakteristisch“ gewesen ist[1]. Staaten als Einrichtungen einer institutionalisierten Zentralgewalt, die über Zwangsmittel verfügt, um ihren Machtanspruch durchzusetzen, gibt es erst seit 4.000 bis 5.000 Jahren, während die Menschheitsgeschichte rund zwei Millionen Jahre umfasst. Die Anarchie ist dementsprechend nicht nur die älteste soziale Lebensform der Menschen, sondern es ist auch die, welche sich am längsten bewährt hat. Selbst heute noch gibt es einige indigene Stammesvölker, die in dieser Art von regulierter Anarchie leben, am Rande der Staatsgesellschaften und immer von diesen in ihrer Existenz bedroht.

Der deutsche Ethnologe und Soziologe Christian Sigrist, der den Begriff „regulierte Anarchie“ in den sozialwissenschaftlichen Diskurs eingebracht hat, sieht sich durch seine Erforschung der akephalen (herrschaftsfreien) Stammesgesellschaften in Afrika in der libertären Auffassung bestätigt, „dass das Zusammenhandeln von Menschen auch ohne herrschaftliche Organisation möglich ist, dass öffentliche Ordnung auch ohne Unterordnung unter öffentliche Gewalten gehalten werden kann"[2]. Zwar gibt es auch in diesen anarchischen Gesellschaften Instanzen, die eine gewisse Macht und Kontrolle ausüben, wie etwa den Ältestenrat, der in generationenübergreifenden Versammlungen das „große Wort“ führt oder den Jagdhäuptling, der bei der Jagd eine Weisungsgewalt besitzt, eine temporäre funktionale Autorität, die auf der Anerkennung und dem Respekt seiner Stammesgenoss*innen beruht. Ist die Jagd vorüber, dann verliert der Jagdhäuptling seine „Autorität“ und wird zu einem normalen Stammesmitglied, wird wieder Gleicher unter Gleichen.

Im Laufe ihrer Geschichte hat die Menschheit eine große Vielfalt an Gesellschaftssystemen entwickelt, die sich als Anarchie, d. h. als ein Gemeinwesen ohne Herrschaft konstituiert haben. Die anthropologische Forschung zu diesen anarchischen Gesellschaften ist umfangreich[3], doch die Forschungsergebnisse und das Wissen, wie die Menschen in diesen anarchischen Gemeinschaften ihr soziales Leben herrschaftsfrei gestalten, haben nur selten den Elfenbeinturm der akademischen Wissenschaft verlassen. Um die gelebte Anarchie dieser herrschaftslos organisierten Gemeinwesen zu verstehen, wollen wir uns ihre wichtigsten sozialen Prinzipien näher anschauen.

Anarchische Gesellschaften sind egalitär, und das heißt, dass sie keine sozialen Ränge oder Klassen kennen. Meistens ist die Bevölkerung dieser Gesellschaften sehr homogen, verwandtschaftlich orientiert, und der Personenkreis, der das anarchische Gemeinwesen ausmacht, überschreitet selten eine Größe von 150 bis 200 Menschen. Aber es gibt auch Ausnahmen, bei denen das anarchische Gemeinwesen von sehr großen Stammesgesellschaften begründet wird. So finden sich in Afrika südlich der Sahara die anarchischen Ethnien der Tiv, der Lugbara, der Nuer und auch der Dinka, die Hundertausende bis mehr als eine Million Mitglieder zählen. Das Auftreten von Anarchie in großen Bevölkerungsgruppen ist also nicht unmöglich, aber es ist doch eher unwahrscheinlich. Anarchie gedeiht am besten dort, wo direkte Face-to-Face-Beziehungen zwischen den Menschen bestehen.

Was macht nun die Anarchie, das herrschaftslose Leben in diesen anarchischen Gemeinwesen aus? Wie soll Gesellschaft funktionieren, wenn es keine staatliche Ordnungsmacht gibt, die darauf achtet, dass die Dinge im öffentlichen Leben nicht aus dem Ruder laufen? Nun, selbst in unseren modernen Staatsgesellschaften, in denen die Polizei eine Fülle an Machtbefugnissen besitzt, richten sich die meisten Menschen auch ohne die staatliche Ordnungsmacht nach den allgemein gesellschaftlich anerkannten Verhaltensregeln. Das zeigt auch die aktuelle Coronakrise, denn auch ohne ständige Polizeipräsenz und -kontrollen halten sich die meisten Menschen an die allgemein als sinnvoll betrachteten Verhaltensregeln zur Vermeidung von zwischenmenschlichen Kontakten, bei denen die Gefahr einer Übertragung des Coronavirus besteht, so schwer ihnen das auch persönlich fällt. Hier wirkt das Prinzip der sozialen Verantwortung, das uns Rücksicht auf unsere Mitmenschen nehmen lässt.

(. . . Fortsetzung in espero, Nr. 2 | Januar 2021)


[1] Harold Barclay: Völker ohne Regierung. Eine Anthropologie der Anarchie, Berlin: Libertad Verlag, 1985, S. 9.

[2] Christian Sigrist: Regulierte Anarchie. Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung politischer Herrschaft in segmentären Gesellschaften Afrikas, Münster LIT-Verlag, 2005 (4. erw. Aufl.), S. 16.

[3] Neben den eben bereits erwähnten Arbeiten von Harold Barclay und Christian Sigrist würde ich zur Einführung in das Thema der staatslosen bzw. staatsabweisenden Gesellschaften noch die drei folgenden jüngeren Veröffentlichungen empfehlen: Hermann Amborn: Das Recht als Hort der Anarchie. Gesellschaften ohne Herrschaft und Staat, Berlin: Matthes & Seitz Berlin, 2016; Pierre Clastres: Staatsfeinde. Studien zur politischen Anthropologie. Mit einem Nachwort von Andreas Gehrlach und Morten Paul. Konstanz: Konstanz University Press, 2020; Rüdiger Haude u. Thomas Wagner: Herrschaftsfreie Institutionen. Texte zur Stabilisierung staatsloser, egalitärer Gesellschaften, Nettersheim: Verlag Graswurzelrevolution, 2019.


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