Der Siegeszug des europäischen Faschismus und die Verheerungen des Zweiten Weltkrieges führten bei nicht wenigen Libertären zu einem konzeptionellen Umdenken. Als soziale Bewegung für eine entstaatliche emanzipatorische Gesellschaft war der Anarchismus offensichtlich gescheitert. An eine unmittelbare Verwirklichung seiner umfassenden revolutionären Ziele war – zumindest auf absehbare Zeit – nicht mehr zu denken. In den folgenden Jahrzehnten nahm der sog. pragmatische Anarchismus Gestalt an. Ohne die Wertmaßstäbe und Grundprinzipien der anarchistischen Klassiker aufzugeben, konzentrierte man sich nun verstärkt auf die Möglichkeiten, libertäre Handlungsperspektiven schon heute innerhalb der bestehenden Gesellschaft zu entfalten.
Im Vergleich mit dem historischen Anarchismus und dessen sozialrevolutionärer Orientierung wirkt der pragmatische Anarchismus vielleicht weniger spektakulär. In seinen Teilbereichen – sei es auf praktischem, sei es auf wissenschaftlichem Gebiet – ist er aber durchaus erfolgreich. Thom Holterman zeichnet diesen Diskurs nach. Von besonderer Bedeutung für eine deutsche Leserschaft wird sein Beitrag durch die Verweise auf bedeutende niederländische Vordenker*innen wie Domela Nieuwenhuis, Anton Constandse, Christiaan Cornelissen, Clara Wichmann, Bart de Ligt oder Albert de Jong, deren tiefergehende Rezeption hierzulande noch aussteht.
(. . . Fortsetzung in espero, Nr. 4 | Januar 2022)