Das Interview mit Noam Chomsky führte Chris Brooks, ein Mitarbeiter von Labor Notes, am 13. April 2020.
Labor Notes ist eine seit 1979 bestehende gemeinnützige Organisation und ein Netzwerk für einfache Gewerkschaftsmitglieder und Gewerkschaftsaktivisten in den USA, die sich für eine Wiederbelebung der Arbeiterbewegung durch Social Movement Unionism und Gewerkschaftsdemokratie einsetzen. Die gleichnamige Zeitschrift, in der auch das Interview mit Noam Chomsky erschienen ist, veröffentlicht News und Analysen zu Arbeitskämpfen und anderen Aktivitäten der organisierten Arbeiterbewegung.
Das Interview mit Noam Chomsky
Der international bekannte Sprachwissenschaftler und libertäre Sozialist Noam Chomsky.Labor Notes: Professor Chomsky, vielen Dank für Deine Bereitschaft, mit mir zu sprechen. Ich weiß, dass Du ständig mit Interviewanfragen überschüttet wirst. Deshalb danke ich Dir im Namen von Labor Notes, dass Du Dir die Zeit für dieses Interview genommen hast.
Chomsky: Freut mich.
Also, ich wollte erst einmal Deine grundsätzlichen Ansichten zu der einzigartigen Situation erfahren, in der wir uns gerade befinden. Offensichtlich befinden wir uns sowohl inmitten einer globalen Pandemie als auch in einer globalen Rezession, und im Augenblick sind Millionen von Menschen in den Vereinigten Staaten sowohl arbeitslos als auch nicht krankenversichert, während unser Gesundheitssystem überlastet ist und nicht annähernd so viele Krankenhausbetten und Beatmungsgeräte und persönliche Schutzausrüstungen zur Verfügung hat, wie wir benötigen. Und ich weiß, dass wir eine halbe Stunde allein mit dieser Frage verbringen könnten. Aber vielleicht kannst Du uns helfen, die gegenwärtige Situation, in der wir uns gerade befinden, und die politischen Weichenstellungen, die uns hierher geführt haben, in groben Umrissen zu verstehen.
Erst einmal sollten wir erkennen, dass diese Pandemie, wenn wir nicht zu ihren Wurzeln vordringen, wiederkehren wird, wahrscheinlich in noch schlimmerer Form, einfach wegen der Machenschaften des kapitalistischen Systems, die darauf abzielen, zu ihren Gunsten Umstände zu schaffen, unter denen es noch schlimmer kommen wird. Wir können das am Konjunkturprogramm und vielen anderen Dingen sehen.
Zweitens werden wir uns jetzt aufgrund der fortschreitenden globalen Klimaerwärmung, die all dies noch zusätzlich überschattet, nur mit erheblichen Kosten davon erholen. Wir werden uns nicht von dem anhaltenden Abschmelzen der polaren Eisschilde erholen. Und wenn Du verstehen willst, wie das heutige Kapital dies sieht, dann schau Dir das Haushaltsbudget von Trump an. Es ist richtig, dass dies ein pathologisches Extrem der normalen kapitalistischen Systeme darstellt, und vielleicht ist es nicht fair, dies als Beispiel zu nehmen, aber wir müssen mit diesem System jetzt leben.
Am 10. Februar, also während die Epidemie bereits grassierte und sich zunehmend verschlimmerte, präsentierte Trump seine Haushaltsvorschläge. Und wie lauteten sie? Erstens: Die weitere Kürzung des Etats derjenigen Regierungseinrichtungen, die dem Gesundheitswesen zugeordnet werden. Während seiner gesamten Amtszeit hat er bei der Finanzierung von allem, was nicht der privaten Macht und dem privaten Reichtum, der Macht der Konzerne, zugutekommt, Kürzungen vorgenommen. So wurden all die Bereiche der Regierung, die man dem Gesundheitswesen zuordnen kann, finanziell heruntergefahren. Er brachte damit Programme und alles Mögliche zum Erliegen.
Doch machen wir weiter mit dem 10. Februar. Die Centers for Disease Control und andere Regierungseinrichtungen, die mit dem Gesundheitswesen beschäftigt sind, müssen weitere Kürzungen hinnehmen. Aber es gab auch Ausgleichszahlungen zur Erhöhung des Budgets für die fossile Brennstoffindustrie, mehr Subventionen für die Industrie der fossilen Brennstoffe! Lasst uns also jetzt nicht nur so viele Menschen wie möglich töten, sondern lasst uns auch versuchen, die gesamte Gesellschaft zu zerstören. Das ist im Grunde das, worauf es hinausläuft. Aber natürlich gibt es mehr Mittel für das Militär und für seine berühmte Mauer.
Dies beides verdeutlicht zweifellos den kriminellen Charakter, der in erster Linie endemisch ist, jedoch vom soziopathischen Weißen Haus auch noch hervorgehoben wird. Das bringt es radikal zum Vorschein. Aber natürlich kann Trump nicht für all dies verantwortlich gemacht werden. Diese Entwicklung reicht weiter zurück, und darüber sollten wir besser nachdenken.
Nach der SARS-Epidemie im Jahr 2003, bei der es sich ebenfalls um ein Coronavirus handelte, war den Wissenschaftlern klar, dass es zu weiteren, wahrscheinlich schwerwiegenderen Ausbrüchen des einen oder anderen Coronavirus kommen würde. Nun, Verständnis allein reicht nicht aus. Jemand muss auch den Ball aufheben und mit ihm loslaufen. Da gibt es zwei Möglichkeiten. Die eine sind die Pharmakonzerne, aber sie folgen einer normalen, kapitalistischen Logik. Sie tun das, was morgen Profit bringt. Sie machen sich keine Sorgen darüber, dass in ein paar Jahren alles zusammenbrechen könnte. Das ist nicht ihr Problem. Die Pharmakonzerne haben also im Grunde nichts getan. Es gab Dinge, die getan werden konnten. Es waren viele Informationen im Umlauf. Die Wissenschaftler wussten, was zu tun war. Es hätte Vorbereitungen geben können. Irgendeiner muss dafür bezahlen. Nicht die Arzneimittelfirmen. Nun, in einer rationalen Welt, sogar in einer kapitalistischen Welt vor Ronald Reagan, hätte die Regierung eingreifen und es tun können.
Auf diese Weise wurde die Kinderlähmung durch ein von der Regierung initiiertes und finanziertes Programm weitgehend ausgerottet. Als Jonas Salk den Polioimpfstoff gegen Kinderlähmung entdeckte, bestand er darauf, dass es darauf keine Patente geben dürfe. Er sagte: „Er muss öffentlich sein, genau wie die Sonne.“ Das ist zwar immer noch Kapitalismus, aber es ist ein reglementierter Kapitalismus. Das wurde mit einem Schlag von Ronald Reagan beendet. Die Regierung ist das Problem, sie ist nicht die Lösung. Lasst uns die Steuerparadiese legalisieren. Lasst uns Aktienrückkäufe legalisieren, die die Öffentlichkeit zig Billionen von Dollar kosten, und zwar durch reinen Raub.
Die Regierung ist die Lösung, wenn der private Sektor in Schwierigkeiten ist, das ist klar. Aber wenn es nur darum geht, dass die Öffentlichkeit etwas braucht, ist die Regierung nicht die Lösung. Seit 2003 konnte die Regierung also nicht mehr intervenieren. In der Tat hat sie in nur sehr geringem Maße interveniert, und es ist sehr aufschlussreich zu sehen, was passiert ist. Obama hat nach der Ebola-Krise erkannt, dass es Probleme gibt. Wir müssen etwas tun.
Obama hat dann mehrere Maßnahmen ergriffen. Eine davon war der Versuch, Beatmungsgeräte zu beschaffen. Beatmungsgeräte sind im Moment der große Engpass im System und der Grund, weshalb Krankenschwestern gezwungen sind zu entscheiden, wen sie morgen töten. Es gibt nicht genug davon. Aber die Obama-Regierung hatte Verträge zur Entwicklung von qualitativ hochwertigen, kostengünstigen Beatmungsgeräten abgeschlossen. Doch die Firma wurde schnell von einer größeren Firma aufgekauft, die das Projekt beiseiteschob – denn es konkurrierte mit ihren eigenen teuren Beatmungsgeräten –, und sie wandte sich dann an die Regierung und sagte, sie wolle sich aus dem Vertrag zurückziehen, es sei nicht rentabel genug.
Das ist wilder Kapitalismus. Nicht nur Kapitalismus, sondern neoliberaler Kapitalismus. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Im Januar und Februar dieses Jahres klopften die US-Geheimdienste an die Tür des Weißen Hauses und sagten: „Hey, es gibt eine echte Krise. Tun Sie etwas!“ Doch das ging nicht. Stattdessen tat die Trump-Administration etwas anderes, nämlich Beatmungsgeräte nach China und in andere Länder zu exportieren, um die Handelsbilanz zu verbessern. So ging das bis in den März hinein.
Jetzt bringen die gleichen Hersteller und Reedereien, die die Beatmungsgeräte exportiert haben, sie wieder zurück, und streichen den doppelten Gewinn ein. Damit müssen wir leben, und so kann es durchaus weitergehen. Wenn man also auf das Ganze zurückblickt, dann muss man feststellen, dass am Anfang ein kolossales Versagen des Marktes steht. Die Märkte funktionieren einfach nicht. Beim Verkauf von Schuhen kann das manchmal noch funktionieren, aber wenn etwas Wichtiges geschieht, dann ist das nicht ihr Business. Du musst so handeln, wie das Milton Friedman[2] und andere aufgezeigt haben: einfach aus Gier. Man tut Dinge für sein eigenes Wohlergehen, seinen eigenen Reichtum, und für nichts anderes. Das ist die einprogrammierte Katastrophe. Wir haben so viele Beispiele dafür gehabt, dass ich nicht im Einzelnen darauf eingehen muss. Am Anfang steht also das Versagen des Markes. Dann kommt der zusätzliche Hammerschlag des wilden Kapitalismus, der Neoliberalismus, unter dem wir seit 40 Jahren in der ganzen Welt leiden. Das geht über das Problem der Beatmungsgeräte hinaus.
Die Krankenhäuser in den Vereinigten Staaten müssen nach einem Geschäftsmodell betrieben werden. Folglich gibt es keine ungenutzten Kapazitäten. Das funktioniert nicht einmal in normalen Zeiten. Und viele Menschen, mich eingeschlossen, können das von den besten Krankenhäusern bezeugen. Aber es funktioniert dann doch irgendwie. Aber wenn etwas schiefgeht, ist man verloren. Pech gehabt. Vielleicht ist ein solches System für den Automobilbau in Ordnung. Aber für das Gesundheitswesen funktioniert es nicht. Unser gesamtes Gesundheitssystem ist international betrachtet ein Skandal. Aber das Geschäftsmodell macht es natürlich zu einer vorprogrammierten Katastrophe. So ist das also.
(. . . Fortsetzung in espero, Nr. 2 | Januar 2021)
Die Veröffentlichung des Interviews erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Labor Notes. Die Übersetzung aus dem Amerikanischen wurde von Jochen Schmück vorgenommen, der die deutsche Fassung zum besseren Verständnis des Interviews noch mit ergänzenden Anmerkungen (in Fußnoten) versehen hat. Die in eckigen Klammern im Text des Interviews eingefügten Ergänzungen (zumeist von Personennamen) stammen von Chris Brooks, der für Labor Notes das Interview mit Chomsky führte.