Call for Papers: Die Corona-Krise und die Anarchie

Ab Ende Februar 2020 begann sich die Coronavirus-Pandemie aus Asien kommend rasch in Europa zu verbreiten. Erst in Italien, dann bald auch in Deutschland und in anderen Staaten Europas schnellte die Zahl der Infizierten sowie die der an Covid-19 Erkrankten und Verstorbenen dramatisch in die Höhe.

Um der deutschen Regierung in Anbetracht der sich rapide entfaltenden Corona-Krise eine Entscheidungshilfe zu geben, hatte eine Expertengruppe des Bundesinnenministeriums ein Strategiepapier verfasst, das unter dem Titel „Wie wir Covid-19 unter Kontrolle bekommen“ ab dem 18. März als vertrauliches Memorandum an weitere Ministerien sowie an das Bundeskanzleramt verteilt wurde. In ihrem Strategiepapier warnen die Verfasser, dass, wenn nichts unternommen würde, allein in diesem Jahr in Deutschland mit mehr als einer Million Toten gerechnet werden müsse und die Gefahr eines Zusammenbruchs des ökonomischen und politischen Systems bestehe. Wörtlich heißt es in dem Strategiepapier:

„Sollten die hier vorgeschlagenen Maßnahmen zur Eindämmung und Kontrolle der Covid-19-Epidemie nicht greifen, könnten im Sinne einer ‚Kernschmelze‘ das gesamte System in Frage gestellt werden. Es droht, dass dies die Gemeinschaft in einen völlig anderen Grundzustand bis hin zur Anarchie verändert.*)

Da also ist sie wieder: DIE ANARCHIE, das seit der Französischen Revolution von den Herrschenden jeglicher Couleur immer wieder beschworene Schreckgespenst des Zusammenbruchs der bestehenden staatlichen Ordnung. Als Libertäre hätten wir ja gar nichts gegen die Anarchie, wenn damit – so wie wir sie verstehen – eine gesellschaftliche Ordnung ohne Herrschaft, also ein freiheitliches und solidarisches Gemeinwesen gemeint wäre. Aber das war es sicherlich nicht, an was die Expertengruppe des Innenministeriums mit ihrer Beschwörung der Anarchie gedacht hatte.

Auch von anarchistischer Seite gibt es inzwischen zahlreiche Stimmen, die in der Corona-Krise den Beginn eines neuen Zeitalters erblicken, das je nach politischem Standpunkt und persönlicher Stimmungslage entweder in der Entstehung eines totalitären Überwachungsstaates oder in einer sich nach anarchistischen Prinzipien neu organisierenden freiheitlich-solidarischen Gesellschaft münden könne.

Zweifellos wird die Corona-Krise zu gravierenden wirtschaftlichen, politischen und sozialen Veränderungen auf der gesamten Welt führen, so wie sie die meisten von uns noch nicht erlebt haben. Und diese Krise stellt ebenso wie die parallel dazu stattfindende globale Klimakrise nicht nur die herrschende Politik und die bestehenden Wirtschaftssysteme auf den Prüfstand, sondern auch wir Libertäre werden mit unseren Ideen und Konzepten durch sie in Frage gestellt. Was können die Anarchist*innen dieser Welt zur Lösung dieser Krise und ihrer Folgen Konstruktives beitragen? Das ist die Frage, die sich uns Libertären heute stellt, und tatsächlich gibt es in der internationalen libertären Bewegung zurzeit eine rege Diskussion darüber, welche Antworten der zeitgenössische Anarchismus auf die durch die Corona-Krise hervorgerufenen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Fragen geben kann.

Als libertäre Zeitschrift wollen wir uns an diesem Diskurs über anarchistische Antworten auf die Corona-Krise beteiligen. Wir werden deshalb Nr. 2 der halbjährlich erscheinenden „espero“ als ein Themenspecial herausbringen, das unter dem Titel „Die Corona-Krise und die Anarchie“ erscheinen wird. Für dieses Themenspecial sind wir an Beiträgen libertärer Autor*innen insbesondere zu den folgenden Fragen interessiert:

  1. Wie erlebe ich als Anarchist*in bzw. als Libertäre/r ganz persönlich die Corona-Krise und die durch sie bewirkten gesellschaftlichen Veränderungen?
  2. Welche libertären Alternativen gibt es zu den staatlichen Maßnahmen, die von den Regierungen zur Bekämpfung der Corona-Krise eingeführt wurden?
  3. Welche Gefahren, aber auch welche Chancen sehe ich als Libertäre/r in den durch die Corona-Krise in Gang gesetzten sozialen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen?

Natürlich sind wir auch offen für Beiträge zu anderen Fragestellungen und Themen, solange sie sich dem Kernthema des Specials „Die Corona-Krise und die Anarchie“ zuordnen lassen. Dies können auch Beiträge sein, die sich in literarischer oder lyrischer Form mit dem Thema auseinandersetzen. Und um dem globalen Charakter der Corona-Krise gerecht zu werden, laden wir auch internationale libertäre Autor*innen zur Mitarbeit an unserem Themenspecial ein. Zusagen für Beträge bzw. sogar schon die Beiträge selbst haben wir bereits von Noam Chomsky, Roel van Duijn und P.M. erhalten.

Wenn Du also Lust hast, für das „Corona-Special“ der Zeitschrift „espero“ einen Beitrag zu verfassen, dann möchten wir Dich bitten, uns baldmöglichst Bescheid zu geben. Bitte schicke uns Deinen Vorschlag für Deinen Beitrag, aber auch Deine Fragen, die Du evtl. zu unserem Themenspecial hast, bis zum 30. August 2020 per E-Mail an die folgende Redaktionsadresse: .

Wir freuen uns, von Dir zu hören bzw. zu lesen.
Bleib gesund und frohen Mutes!

Das Redaktionsteam:
Markus Henning, Jochen Knoblauch, Rolf Raasch und Jochen Schmück

Anmerkungen

*) Zitiert nach dem geleakten Originaltext des Strategiepapiers des Innenministeriums, das von dem Demokratie-Blog „FragDenStaat“ am 1. April 2020 in dem Artikel „Corona-Strategie des Innenministeriums: Wer Gefahr abwenden will, muss sie kennen“ veröffentlicht wurde.