„Wer schweigt, macht sich mitschuldig.“ Oskar Maria Graf, ein anarchistischer Weltbürger im Exil
Oskar Maria Graf: Rebell, Weltbürger, Erzähler. Ausstellungskatalog. Hrsg. von Tanja Graf, Karolina Kühn, Laura Mokrohs und Katja Sebald, München: Stiftung Buch-, Medien- und Literaturhaus München, 2017, 162 Seiten, 10,00 €.
Schreiben war für Oskar Maria Graf (1894-1967) immer auch ein politischer Akt. Sein Schreibtisch war ihm Ort der Selbstbehauptung und des Handelns. Als Anarchist und Räterevolutionär stand der große Erzähler schon in seiner Münchener Zeit (1911-1933) auf Seiten der Unterdrückten, intervenierte nahezu allergisch gegen jede Art von Ideologie, Obrigkeit oder Heuchelei. Unermüdlich Stellung bezog er auch nach erzwungener Flucht ins Ausland. Die Nazis waren noch keine vier Monate an der Herrschaft, da hallte ihnen aus Wien sein zorniges „Verbrennt mich!“ entgegen.
Dauerhaft kehrte Graf nie mehr nach Deutschland zurück. Die Emigration führte ihn und seine Lebensgefährtin Mirjam Sachs Anfang 1934 weiter ins Tschechoslowakische Brünn und von dort im Sommer 1938 nach New York.
Stationen eines Exils, das sich nach Kriegsende zur Diaspora auswuchs. Ihnen hat das Literaturhaus München eine großangelegte Ausstellung gewidmet: „Oskar Maria Graf: Rebell, Weltbürger, Erzähler“. Sie gastierte von April bis September 2019 in Frankfurt am Main im Deutschen Exilarchiv 1933-1945. Auch dem hiesigen Publikum eröffneten sich tiefe Einblicke in den Lebensentwurf eines konsequent Unangepassten, der seine Außenseiterrolle mit tief empfundener Humanität, Lebensmut, Tatkraft und politischer Klarsicht füllte. Grafs literarisches Universum, seine Motive und Positionen sind in vielerlei Hinsicht von ungebrochener Aktualität. Der mit Abbildungen und Begleittexten üppig ausgestattete Katalog arbeitet das klar heraus. Er ist eine Publikation von eigenständiger Qualität.
Vernetzung der Flüchtlinge: Anker im Existenzkampf und Organisation des Widerstandes. Oskar Maria Graf wurde zur treibenden Kraft, hielt so viel Vorträge wie noch nie, las aus seinen Werken, knüpfte Kontakte, führte Menschen zusammen, gab ihnen Halt. Sein Arbeitspensum war immens. Beeindruckend die Liste der Exilzeitschriften, für die er regelmäßig Beiträge verfasste: Neue Deutsche Blätter, Die Sammlung, Maß und Wert, Die neue Weltbühne. Auch auf internationaler Ebene setzte er sich für die Vereinigung antifaschistischer Kräfte ein. Dabei innerlich unabhängig, mit Lust an der Provokation sich jeder Parteizugehörigkeit verwehrend. So auch 1934 bei einem neunwöchigen Aufenthalt in der UdSSR. „Ich war damals eingeladener Gast des Unionskongresses der Sowjetschriftsteller […] Ich bereiste den ganzen Russischen Süden in der Bayrischen Tracht, Lederhose, Samthut und Joppe und war in einem Tag der berühmteste Mensch in Moskau“ (S. 45).
In New York wurde Graf Mitbegründer und Präsident der German American Writers Association. Offenheit und Vielfalt der Metropole faszinierten ihn als Gegenmodell zum nationalistisch besetzten Konzept von Heimat, als utopischer Aufschein menschlicher Möglichkeiten. „Wenn man anfängt, die Worte, die man spricht oder schreibt, zu verantworten, wenn das Wort, das ich als Einzelner gebrauche, endlich in Einklang zu meinen Handlungen steht, erst dann wird eine Verständigung von Mensch zu Mensch, von Volk zu Volk wieder aufkommen; erst dann werden wir Vertrauen zueinander gewinnen und die gefährlichen Vorstellungen wie ‚Vaterland‘, ‚Nation‘ oder ‚Besonderheiten‘ verlieren“ (S. 158). Ein Satz, wie auf die weltpolitischen Verwerfungen unserer Tage gemünzt. Graf formulierte ihn 1948.
Acht Jahre zuvor war „Das Leben meiner Mutter“ erschienen (zunächst nur in englischer Übersetzung), Grafs episches Hauptwerk und veritables Gegenbild zu Nationalismus und Männlichkeitskult.
Eine Konstante in Grafs eigenem Leben war die Bewunderung für Leo Tolstoi (1828-1910). Seit früher Jugend war der große Russe ihm Vorbild, in seinem anarchistischen Denken, seiner Liebe zu den einfachen Menschen, in seinem Schreiben und ganz besonders in seinem Ideal der Gewaltlosigkeit.
Der Pazifismus war für Oskar Maria Graf nicht verhandelbar. So prekär die Situation als Staatenloser, so drohend die Nachstellungen des FBI auch sein mochten! Auch als ihm und Mirjam endlich die ersehnte Staatsbürgerschaft angeboten wurde! Im Juni 1958 schrieb er: „Wir sind vor zirka 3 Monaten zu unserer größten Überraschung USA Bürger geworden, ich sogar trotzdem ich den Kriegsdienst auch jetzt wieder verweigert und einen Extraschwur geleistet habe“ (S. 133).
Jetzt reiste er auch wieder nach Deutschland, viermal bis 1965. Sein Blick war scharf. Er sah alte Eliten der NS-Zeit, er sah westdeutsche Wohlstandsbürger und saturierte DDR-Funktionäre. „Hierbleiben? Auf keinen Fall. Ich könnte hier nicht atmen“ (S. 136).
1966, ein Jahr vor seinem Tod, veröffentlichte Graf eine Autobiographie. Ihr Titel: „Gelächter von außen“.
Markus Henning
Quelle: espero Nr. 0, Januar 2020, Seite 89ff.