Die Stärke der russischen Propaganda liegt in unserer Schwäche und Zersplitterung. Wir sind nicht besonders gut darin, die vorhandenen Quellen zu überprüfen und neue Quellen zu finden. Die profitorientierten sozialen Medien sind zu unseren wichtigsten Kommunikationskanälen geworden. Anstatt uns zu helfen, horizontale Verbindungen aufzubauen, sperren sie uns in verschiedene Blasen ein und entfremden uns voneinander. Die alten Medien sind zu zentralisiert und parteiisch, und die neuen Medien entziehen sich unserer Kontrolle. Aber es ist noch nicht alles verloren, wenn wir uns das wenigstens klarmachen können.
Man sollte nicht die Kreml-Ideologen und ihre nützlichen Idioten jeglicher Couleur überschätzen. Sie sind nicht klug und erfahren genug, um jemanden zu zombifizieren. Die Menschen machen sich selbst zu Zombies. Die russischen Propagandisten sind praktisch nicht in der Lage, neue Ideen zu entwickeln und zu verbreiten. Aber die alten Ideen reichen aus, wie wir in dem folgenden Bericht aufzuzeigen versuchen.
In zufälliger Reihenfolge wollen wir also auf die wichtigsten Narrative, d.h. wiederkehrenden Handlungen, der russischen Propaganda der letzten Jahre eingehen. Das sind die, die von den russischen Medien und ihren Verbündeten am häufigsten propagiert werden, wenn es um die russische Außenpolitik und die Ukraine geht.
„Ich kann doch sowieso nichts tun und verstehe auch nicht, worum es geht“
Das wichtigste Ziel der russischen Propaganda ist seit spätestens 2014 nicht nur und nicht so sehr, ihre Empfänger davon zu überzeugen, Russland zu unterstützen. Dies ist nicht immer eine einfache Aufgabe. Und es ist schwierig und kostspielig, dafür ein universelles Narrativ zu schaffen.
Es ist viel einfacher zu versuchen, feindliche Stimmen im weißen Rauschen zu übertönen und diejenigen zu neutralisieren, die unsicher sind und zweifeln. Und dann, heimlich, Narrative zu fördern, die der russischen Regierung nützen.
Zu diesem Zweck wird eine große Anzahl von Fakes in den Informationsraum geworfen. Je rasanter und emotionsgeladener, desto besser. Das endlose Scrollen durch Feeds mit Videos und Geschichten über Reptiloide im Bikini, Putins Puschen oder Leichenberge an einem sommerlichen Strand – all dies vermittelt das Gefühl eines wilden und unberechenbaren Stroms. Der Konsum dieser Inhalte zermürbt die Psyche und verwischt die Grenzen zwischen zwar relativ unwahrscheinlichen, aber realen Geschichten und absoluter Fiktion. (. . .)
Was es mit der „Russophobie des Westens“ auf sich hat.
Zunächst sei daran erinnert, dass der Begriff „Russophobie“ von russischen Antisemiten geprägt wurde, um die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung zu rechtfertigen. Ohne sich in den historischen Dschungel zu begeben, muss man feststellen, dass sich in den Reichen, die einen bedeutenden Anteil an slawisch kolonisierter Bevölkerung hatten – Österreich-Ungarn und Deutschland -, ein bestimmter Ideenkomplex entwickelt hat, den man durchaus als antislawisch bezeichnen kann. Diese Ideen erreichten ihren Höhepunkt im deutschen Nationalsozialismus. Für die Nationalsozialisten wurden die Russen zum Inbegriff, d. h. zum Mittelpunkt von allem Slawischen. In Deutschland gibt es immer noch Vorstellungen über die Bedrohung durch eine Invasion russischer Barbaren aus dem Osten.
Mit dem Untergang Nazideutschlands wurden antirussische Ideen teilweise in die antikommunistische Ideologie integriert, die das Weltbild der westlichen Konservativen bestimmte. (. . .) Die kommunistischen Russen waren zu Barbaren aus dem Osten geworden, und die Ablehnung des liberalen Marktmodells wurde mit Diktatur, d. h. östlicher Despotie, gleichgesetzt. Die Sowjetunion selbst hat sich als autoritäres, böses Imperium inszeniert, das nicht nur die westlichen Kapitalisten, sondern auch seine eigenen Verbündeten bekämpft. Wo immer nichtstalinistische Kommunisten auftauchten, schickte die UdSSR Panzer und Schergen des KGB. Auch zu Hause wurden Dissidenten nicht gerade verwöhnt. (. . .)
Auf der anderen Seite haben die Linken das Bild des russischen Kommunisten mit ihren eigenen idealisierten Vorstellungen vom Kommunismus verknüpft. Sie sind es gewohnt, sich selbst und “russische Kommunisten” zu verteidigen, während sie in Wirklichkeit den sowjetischen und jetzt russischen Imperialismus und die Kolonialpolitik unterstützen.
Wenn es um die Russophobie des Westens geht, lässt sich die russische Propaganda auch hier nichts Neues einfallen. Sie nehmen bestehende Geschichten und verlagern den Schwerpunkt. Sie bezeichnen jeden Versuch, sich der Hegemonie der Zentralmacht innerhalb des Reiches zu widersetzen oder die Autorität Russlands über “seine kanonischen Gebiete” nicht anzuerkennen, als Russophobie.
Warum Putin immer wieder von seiner „antifaschistischen Mission“ spricht
(. . .) Für den sowjetischen Durchschnittsbürger ist Faschismus eine Bezeichnung für das allgemeine Böse, das zwar eine bestimmte Symbolik, aber keinen Inhalt hat.
Der Große Vaterländische Krieg war zwar historisch gesehen Teil des Zweiten Weltkriegs, wurde aber von der sowjetischen und später der russischen Geschichtsschreibung als fast völlig unabhängig davon betrachtet. Im Laufe der Zeit setzte sich die Auffassung durch, dass der Große Vaterländische Krieg kein Krieg für bestimmte Werte war, sondern eine Fortsetzung des endlosen Kampfes um die Verteidigung des Vaterlandes darstellte. Die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs werden auf eine nicht-historische Weise als universelle Erklärungsmatrix wahrgenommen, als Schablone, die auf jeden Konflikt, sei er militärisch oder ideologisch, angewendet werden kann.
In dieser Weltanschauung gibt es keinen begrifflichen Unterschied zwischen dem Krieg mit dem Deutschen Orden, den Polen des 17. Jahrhunderts, Napoleon, Hitler, den kapitalistischen Schurken und dem korrumpierenden Einfluss des Westens, „Schwulenparaden“ oder Russophobie. Sie sind nur durch die Anwesenheit von Invasoren aus dem Westen und dem letzten Bollwerk der Menschheit – dem heiligen Russland, dem sozialistischen Heimatland oder einfach Russland – vereint. Der Konflikt mit dem Westen wird als die letzte Schlacht in der christlichen Eschatologie, der Lehre vom Ende der Welt, angesehen. (. . .)
Eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Sieg wurde in der Einheit des russischen Volkes gesehen. Wenn für jemanden wie Leo Tolstoi in Krieg und Frieden die Einigung noch um die Idee des Vaterlandes und ethische Kategorien stattfinden konnte, dann fand in der (post)stalinistischen Beamtenschaft, die alles verschlang, die Einigung bereits um die Idee des Führers und der Loyalität zu Moskau statt.
Demnach ist jeder, der nicht dem Führer persönlich oder zumindest der kollektiven Führung in Moskau gegenüber loyal ist, ein Faschist. Russen sind von Natur aus Antifaschisten und können feststellen, wo es Faschismus und wo es Antifaschismus gibt. Daher ist es nicht notwendig, einen Beweis für „Faschisten an der Macht“ in Kiew zu erbringen. Die russische Propaganda hat sich nie dazu herabgelassen, die Ideologie des Rechten Sektors oder des Asow-Bataillons zu analysieren, sondern sich auf Symbolik und Beschreibungen realer oder fiktiver Verbrechen gegen die Menschlichkeit konzentriert.
Allein der Gedanke, ein Ukrainer zu sein, d.h. ein Verräter an den Russen, macht einen bereits zum Faschisten oder Russenhasser. Die Entnazifizierung der Ukraine bedeutet für Putin heute, die Ukrainer zu unterwerfen und ihre Selbstbestimmung zu zerstören. Es ist kein Kampf gegen bestimmte Politiker oder Ideen, es ist ein Kampf gegen die Unabhängigkeit im weitesten Sinne. In dieser Logik ist jede Unabhängigkeit der Bewohner „kanonisch russischer“ Territorien Faschismus.
Der russische Antifaschismus ist in keiner Weise an Werte gebunden. An die Stelle von Werten treten die Zugehörigkeit zur russischen Nation und die Loyalität gegenüber der Figur des Führers oder der kollektiven Führung. So schließt sich der Kreis, und wir erhalten einen reinen Smaragd des fast klassischen Faschismus. (. . .)
Ist die Ukraine „ein faschistischer Staat“?
Ich möchte noch einmal wiederholen, was ich oben geschrieben habe: Für Putin ist Faschismus nicht mit einer Ideologie oder einem bestimmten politischen Regime verbunden. Ein faschistischer Staat ist für ihn jeder illoyale Staat, der in einem Gebiet existiert, das die Russen als das ihre betrachten. Es ist nicht schwer zu erraten, wer zu den nächsten faschistischen Staaten erklärt wird, wenn Russland nicht gestoppt wird.
In der Tat ist die Ukraine in den letzten Jahrzehnten und erst recht jetzt eine viel pluralistischere Gesellschaft als Russland. Die parlamentarischen Parteien und die amtierenden Präsidenten wechseln von Wahl zu Wahl. Putin selbst weist in seinen Reden darauf hin und bringt dies sogar mit dem faschistischen Charakter der ukrainischen Staatlichkeit in Verbindung. Der russischsprachige Jude Wolodymyr Selenskyj gewann die Wahl mit einem Friedensprogramm für den Donbass. Die Rechtsextremen haben immer wieder Wahlen verloren und können die Erfolge der Janukowitsch-Ära nicht wiederholen. Man sollte sie nicht unterschätzen, aber sie haben sicherlich noch nicht die Kontrolle über den gesamten Staat. In der Ukraine gibt es keine vertikale Machtverteilung, und im Allgemeinen ist die Macht auf so viele Akteure verteilt, dass die Russen davon nur träumen können.
Selbst jetzt, nachdem die russische Armee zu Massakern an der Zivilbevölkerung übergegangen ist, verwendet die offizielle ukrainische Propaganda kaum noch ethno-nationalistische Rhetorik. Selenskyj hat sich in russischer Sprache an Russen gewandt, die er zum Widerstand gegen die Entscheidungen ihrer Führung aufforderte.
Die Ukraine und alle ihre staatlichen Institutionen setzen mehr auf Initiativen der Basis und Selbstorganisation, die die Bevölkerung zum Widerstand gegen die Besatzer auffordern. Russland schickt Wehrpflichtige zur Schlachtbank und hat eine umfassende Militärzensur eingeführt.
Es ist offensichtlich, auf welchen der kriegführenden Staaten die Definition des Faschismus am ehesten zutrifft.
Der Ukrainekrieg: „ein Konflikt zwischen Russland und der NATO“?
Die NATO hat bisher kein Militär in die Ukraine entsandt, auch die Waffenlieferungen sind sehr begrenzt. Ihre Vertreter betonen immer wieder, dass ihre oberste Priorität weiterhin darin besteht, eine direkte militärische Konfrontation mit Russland zu verhindern. Westliche Politiker sehen sich die Bombardierung von Wohngebieten durch russische Flugzeuge und Artillerie in aller Ruhe an, egal was sie in der Öffentlichkeit behaupten. Es wäre seltsam, von ihnen Mitgefühl zu erwarten, wo sie doch den Bombenangriffen in der ganzen Welt jahrelang ebenso gelassen zugesehen haben.
Bevor Russland 2014 gegen die Ukraine in den Krieg zog, befand sich die NATO in einer Stagnation und einer internen Krise. Die europäischen Länder waren ständig im Streit mit den USA über die Entsendung ihrer Truppen in das eine oder andere Land. Die Verteidigungsausgaben erschienen übertrieben. Das Vorgehen Russlands war ein Geschenk für alle Befürworter der Militarisierung und der NATO-Mitgliedschaft. Zurzeit ist Russland selbst der wirksamste Unterstützer der NATO-Erweiterung. Die Bedrohung aller Menschen in der Nachbarschaft und die tatsächlichen Militäraktionen führen zu einer panischen Stimmung unter den Nachbarn und dem Wunsch, anderswo Schutz zu suchen. Die besten Beispiele hierfür sind Georgien und Finnland. Niemand möchte zum Klang von Sirenen aufwachen und seine Angehörigen begraben müssen, und die Menschen sehen keine Alternativen zur NATO.
Jede Diskussion über Geopolitik riecht nach Verschwörungstheorie, aber im Fall der Diskussionen über den Krieg zwischen Russland und der Ukraine erreicht sie unermessliche Tiefen. All diese Verschwörungen haben eines gemeinsam: In ihnen ist nicht nur kein Platz für Einzelpersonen, sondern auch kein Platz für zu kleine Staaten. Die gesamte Politik ist angeblich das Werk der Kabale, in diesem Fall der NATO oder Russlands. Ein solcher Ansatz entlarvt den Big-Brother-Komplex auf Seiten des Beobachters. (. . .) Wenn man die betroffenen Einheimischen nicht beachtet oder sie zu einer dekorativen Zierde macht, kann man sie auch nicht wirklich unterstützen. Und ein Mangel an Unterstützung zum jetzigen Zeitpunkt kann reale Vernichtung bedeuten, nicht nur symbolische Zerstörung.
„In einem Konflikt zwischen zwei Imperien ergreifen wir keine Partei“
Man hört oft, vor allem von Antimilitaristen, dass, wenn zwei Imperialismen einander bekriegen, man sich nicht vereinnahmen lassen sollte. Diese Idee gibt es schon seit langem und sie hat sicherlich ihre Berechtigung. Wir teilen diesen Standpunkt voll und ganz. Im Falle der militärischen Invasion Russlands in der Ukraine kommt es jedoch nicht zu einem Zusammenstoß zwischen zwei militärisch und ideologisch gleichwertigen oder vergleichbaren Kräften. Es gibt eine Aggression eines imperialistischen Staates gegen einen anderen Staat.
Russland ist der Hegemon geblieben und hat sich zum Staat mit dem massivsten Rechtsdrall in der Region entwickelt. (. . .) In Osteuropa, im Kaukasus und in Zentralasien finanziert Russland die extreme Rechte und setzt sich für homophobe Gesetze ein, schürt ethnische Konflikte und Militarisierung, unterstützt Diktaturen und ertränkt Volksaufstände in Blut.
Russland ist ein politisches schwarzes Loch. Alles, was in seine Umlaufbahn fällt, hört auf zu existieren.
Im Moment ist ihr Ziel die Zerstörung der Ukraine im politischen Sinne, doch je weiter der Krieg voranschreitet, desto heftiger geht die russische Armee gegen die Zivilbevölkerung vor.
Es gibt keine zwei Imperialismen. Es gibt nur den einen Imperialismus gegen die Menschen.
Und Du musst Dich entscheiden, auf welcher Seite Du stehst, bevor es zu spät ist!
Quelle: avtonom.org, 21. März 2022. Der Artikel wurde von der espero-Redaktion aus dem Russischen übersetzte und leicht gekürzt.